CONSTELLATIONEN I

 

constellationen I (2012), WP Tonhalle Zürich, 9/2012
paul taylor orCHestra, Paul Wegman Taylor (dir), Eilana Burki (alphorn), Sanna Kurki-Suonio (voc)

 

 

 

 

constellationen (2012)

for voice, solo alphorn in F, string orchestra, live-tape and percussion ad lib
commissioned by Paul Wegman Taylor
for Eliana Burki, Sanna Kurki-Suonio and the paul taylor orCHestra
Duration: variable/12'
Manuscript / CD

 

Erläuterungen:

'constellationen' ist ein modular aufgebautes Stück.
Dessen Baustelne werden vom Dirigenten bzw. Solisten
gemäss der Formskizze/Erläuterungen ausgelöst.
Das Stück besteht aus folgenden Bausteinen:

1.
Kanon (Streichorchester)
Einstimmiger Kanon, jeweils für jedes Streicherregister spezifisch ausgeschrieben. Das um einen Viertelton erhöhte d1 ist identisch mit dem 7. Oberton des Alphorns (in F) zu stimmen/intonieren. Der 'Kanon' wird von den Streichern solistisch ausgeführt, die Einsätze werden vom Dirigenten gemäss Einsatzplan gegeben. Das Stück endet für alle mit dem Abwinken des letzten Tons der Singstimme.

2.
Modul (Solo-Streichquintett & Perkussion)
Das 'Modul' besteht aus zwei Instrumentengruppen: Solo-Streichquintett und Perkussion. Das 'Modul' kann mehrmals nach Ermessen des Dirigenten ausgelöst werden und dient formal als Interpunktionsmöglichkeit. Mit dem Einsatz des 'Moduls' unterbrechen alle Streicher den 'Kanon'. Die Perkussionsstimme ist ad lib. Der Perkussionist spielt ausschliesslich während des Moduls. Sein Part ist nicht instrumentenspezifisch.

3.
Solo Alphorn (in F)
setzt auf Zeichen des Dirigenten ein. Endet spätestens mit dem Schlusston der Singstimme.Der 7. Oberton des Alphorns in F ist
Referenz für das um einen Viertelton erhöhte d1 in den Streichern und in der Stimme.

4.
Solo Mezzosopran & Zuspielband
Der Solo Mezzosopran singt das walliserdeutsche Volkslied 'Abschied vom Gantertal'. Zeitgleich mit ihrem Einsatz löst sie das Zuspielband aus. Dieses begleitet die Stimme mit einem Zerrklang. Die Melodie kann und soll frei wiedergegeben werden, Der Schlusston der 3. Strophe des Liedes beendet das Stück.

Abschiid vam Gantertal
Scheens Gantertal, miine Sunnustrahl, gsehn i di hit zum letschtu Mal.
Scheens Gantertal, miine Sunnustrahl, gseh di zum letschtu Mal!
Gantertal, dü miine Sunnustrahl, gseh di zum letschtu Mal,
zum letschtu, allerletschtu Mal!
Gantertal, dü miine Sunnustrahl, gseh di zum letschtu Mal, zum letschtu Mal.
Alli Luscht und Leid han i liecht ertreit in diine Wäldru, uf diiner Weid.
Alli Luscht und Leid han i liecht ertreit uf diiner grienu Weid.
Luscht und Leid hani so liecht ertreit in diine Wäldru
und uf diiner saftig grienu Weid. Luscht und Lied han i so liecht
ertreit in diine Wäldru und uf diiner Weid.
Müess i jetz öü gah und dich ganz verlaa,
ds Härz wird uf ewig nur fer dich schlaa.
Müess i jetz öü gah und dich ganz verlaa,
ds Härz wird fer dich nur schlaa. Müess i jetz öü
gah und dich so ganz verlaa, miis Härz wird ewig, ewig ja fer dich nur schlaa.
Müess i jetz öü gah und dich so ganz verlaa, miis Härz wird ewig fer dich schlaa.
(Text und Melodie von Adolf Imhof, nach einer alten Jodelweise)

 

Kommentar:

"Präzis instabil.

'Abschied vom Gantertal' ist ein Oberwalliser Volkslied, das auf einem alten, im Oberwallis überlieferten Jodel basiert. Das Lied entstand in dieser Form als Bestandteil eines gleichnamigen Singspiels, das den Auszug aus der Heimat zum Thema macht. Die Menschen müssen sich verschieben, die Heimat wird verschoben, die Ökonomie und der politische Kontext verschieben sich.

Diese Verschiebung wird mit folgenden Mitteln zum Thema gemacht: 1. modulare, offene Form, 2. Skordatur (die Umstimmung einer oder mehrerer Saiten) und verschiedenartige Dämpfer in den Streichern, die auf unterschiedlicher Basis subtil denselben Ton umspielen; 3. andererseits durch die Ambivalenz der Note dos (ein um ein Viertelton hoch alteriertes d1 bzw. esus (ein um ein Viertelton nach unten alteriertes es1, die auf zwei verschiedenen Säulen ruhen – den skordierten Streichersaiten und auf dem 7. Naturton des Alphorns in F.

Formal besteht das Stück aus a) einem einstimmigen Kanon für alle Streicher, b) einem kontrapunktischen Modul für Streicher und optionalem Schlagzeug, das Material des oben erwähnten Volksliedes benutzt, c) einer freien Melodie für Alphorn und d) dem Volksliedmaterial, mit welchem die Solosängerin spielt.

Alle Streicher spielen denselben Kanon, sind aber unter- und gegeneinander verschoben. Das Alphorn wiederum steht verschoben zum Streichorchester. Folglich kollidiert das Modul der Komposition formal mit dem Kanon, es verschiebt die Volksliedmelodie, die ihrerseits gleichzeitig in einem polymetrischen Käfig gefangen ist. Das gesungene Volkslied schwebt dagegen frei variierend, etwas eingetrübt durch ein leise verzerrendes Zuspielband. Der Oktavsprung in der Melodie – einst Symbol für die Perfektion – ist gespreizt. Diese ständigen Eintrübungen und Verschiebungen erinnern an eine Fata Morgana, an ein verschwimmendes (Trug-)Bild.

„constellationen“ orientiert sich an den Eigenschaften und Funktionsweisen eines Kaleidoskops und eines Mobiles: Präzise farbliche, formale und dynamische Austarierung der Bausteine des Stücks bei gleichzeitig verschiebbarer Erscheinung. Die modulare Schreibweise verlangt von den Musikern, die Funktionsweise des Stücks von Beginn weg zu erkennen und das Augen- beziehungsweise Ohrenmerk auf die unmerkliche, sich einschleichende Verschiebung zu lenken. Die offenen Formen stehen für ein Modell der Selbstverantwortung und sind Metaphern für eine an sich stets sich verschiebende Welt und die sich dauernd verändernde Wahrnehmung derselben.“

JH, im August 2012

 


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