Das Publikum hört in zwei Sphären. Es hört im
Kopfhörer, aber gleichzeitig im Konzertraum. Eine
Aufführung – zwei Musiken: Gleichzeitig zum Hörspiel im
Kopfhörer findet live ein Konzert statt. Manchmal passen
beide Musiken zusammen, dann ergibt sich eine stimmige
Gesamtmusik. Die kafkaeske Sicht auf die Welt, dieses
tragische Auseinanderklaffen von innerer und äußerer
Wirklichkeit aber kann vor allem dann gezeigt werden,
wenn die zwei Musiken in den beiden Sphären nicht
zusammen passen.
„Marienglas“ knüpft an eine moderne Alltagserfahrung
an: Viele Menschen laufen heute mit Kopfhörern herum und
hören zur selben Zeit zweierlei – ihre „eigene“ Musik
und die Geräusche des Alltags. Mit „Marienglas“ kann
aber auch eine kompositorische Vision umgesetzt werden,
die perfekte Realisierung von Musik im dreidimensionalen
Raum. Denn im Kopfhörer und dem Kunstraum können Klänge
in „unerhörter“ Weise räumlich kombiniert und zu
vielschichtigen akustischen Raumgestalten gefügt werden.
Das Kafka-Romanfragment eignet sich dabei ideal als
dichterische Grundlage: Der Landvermesser K. verliert
mehr und mehr seine Orientierung.
Die Romanfigur wird auf der Bühne durch zwei
Protagonisten dargestellt, einen Sänger und einen
Artisten. Das Publikum weiß nicht, welche Figur der
wirkliche Sänger ist, denn das ausgeklügelte Aufnahme-
und Wiedergabesystem verunmöglicht die Zuordnung der
gehörten Stimme zum gesehenen Sänger. Was ist
real, was ist virtuell? Diese Frage beschäftigt das
Publikum beim Hören der Musik und beim Betrachten der
Szenen von „Marienglas“.
Mitwirkende
Beat Gysin Komposition, Projektleitung, künstlerische
Leitung
Hans Saner Textauswahl
Daniel Dettwiler Audiodesign, Klangraumgestaltung
Sarah Derendinger Visuelles Konzept
Nika Grass Maske, Kostüm
Philipp Boe szenische Gestaltung, Artist
Javier Hagen Tenor/Countertenor, Sprecher
David Bollinger Aufnahmen, Mischung, technische
Begleitung
Peter Affentranger Bühnenbau
Werner Ullmann Licht
Tobias Müller Licht
Wolfgang Beuschel oeil extérieur
Susanna Wild Organisation
Interpreten und Sprechstimmen Zuspielband
Jürg Henneberger Einstudierung
Susanne Mathé Violine
Wiktor Kociuban Violoncello
Irena Gulzarowa Klavier
Iris Benesch Sopran (Frieda)
Franziska von Arx Sprechstimme (Frieda)
Domenico Sprechstimme (Vorsteher)
Alex Megert Sprechstimme (Schwarzer)
Patrizia Bornhauser Sprechstimme (Olga)
Charlotte Heinimann Sprechstimme (Wirtin)
Teil 1 „Ouvertüre“: Eingang und Einführung -
Während die Besucher an die Plätze geführt werden,
klingt schon Musik, geteilt in die Sphäre des
Aufführungsraums und des Kopfhörers. Das Publikum
lernt das komplexe Audiosystem während dieser
ersten Phase kennen und differenzieren und kann
sich einen Einblick in die akustische
Illusionswelt verschaffen, die den folgenden
Hauptteil prägt. Erstmals wird aber auch – auf
einer rein sinnlichen Ebene - implizit die Frage
aufgeworfen, worin für die Wahrnehmung der
Unterschied zwischen physischen und rein
virtuellen Realitäten besteht.
Teil 2 Hauptteil: Das
Schloss - Der Hauptteil ist in sechs Stücke
gegliedert. Mit dem Hauptteil setzt die
verständliche Sprache ein und das Publikum
verfolgt im Kopfhörer ein musikalisches Hörspiel
(Musik, Text und akustische Szene), das in den
„Realräumen“ des Kafka-Textes spielt - es sind
Kneipen, ein Wohnzimmer, eine Schule, ein
Schlafzimmer und ein Büro. Zwischen die Szenen ist
ein Sprechertext gelagert. Diesem Hörspiel wird
während der Aufführung eine stark abstra-hierte
Bühnenszene und die live Musik gegenüber gesetzt.
Sie zeigen eine Doppellfigur – K. und sein alter
ego in ständiger Spiegelung und Verwirrung. Der
Besucher nimmt somit an zwei Szenerien teil, einer
rein akustischen (virtuellen) im Kopfhörer und
einer physischen im Aufführungsraum. Der Kopfhörer
wird zu einem Symbol: So wie K. in seiner eigenen
(Gedanken-)Sphäre lebt, ist auch der Kopf der
Besucher akustisch durch eine kleinen „Innenraum“
vom Aufführungsraum getrennt. Der
„Marienglas-Kunstraum“ hingegen symbolisiert das
Dorf, das kreisförmig um das Schloss angelegt ist,
ohne dass es einen Zugang zu diesem gibt.
Tatsächlich aber und zur präziseren Darstellung
von Ks. Dramatik durchdringen sich virtuelle und
physische Realität in der Kammeroper so stark,
dass die Grenzen immer wieder verloren gehen und
der Besucher oft nicht weiss, was virtuell und was
physisch ist – symbolisch übertragen: was
Gedankenwelt und was äussere Realität ist. Die
akustisch-sphärische Trennung der Räume in einen
Innen- und einen Aussenraum wird szenografisch
wiederholt: Durch das Senken der Deckenfolie
bildet sich ein eigener Raum um den liegenden Teil
des Publikums. Die
sechs Stücke des Hauptteils (Brückenhof, Barnabas,
Vorsteher, Schule, Ausschank, Bürgel) basieren auf
schneller werdenden Tempi – der immer wieder
hörbare Atem des Protagonisten verdeutlicht dies.
Die Musik, zunächst in einem filigranen Duktus
geführt, wird zunehmend emotional, die Szenen
brachial. Schliesslich jedoch verinnerlicht sich
die Musik, zieht sich zurück, den Werdegang von K.
schildernd, der in der Dorfwelt immer weniger zu
seinem Recht kommt und sich isoliert. Auch die
Musik selbst ist räumlich komponiert: Während sie
zunächst in scheinbarer Entfernung zu hören ist,
kommt sie zunehmend „näher“ und dringt
schliesslich quasi in den Kopf ein. (Dies ist
technisch mit Hilfe des Kopfhörers möglich.) Dann
klingt sie wie eine Traummusik in seltsam
verzerrten, multiplen Räumen.
Teil 3 Epilog: Umorientierung und
Rückbesinnung Die Musik des Teils 2 wird nun
„vertikal“ geschichtet – alle sechs Stücke aus
Teil sind gemeinsam zu hören. Dies ist eine
offensicht-liche Reizüberflutung und das Publikum
ist gezwungen, sich gleich einer Partyatmosphäre
auf Einzelnes zu konzentrieren. Die Protagonisten
eilen auf dem Laufsteg und beleuchten sich oder
die Laut-sprecher, so einen „Weg des Hörens“
ausleuchtend. Im Kopfhörer ist ein Text ohne Atem
zu hören. Dieser Text stellt das Ende einer über
alle Teile von „Marienglas“ zunehmenden Textdichte
dar. Diese enorme Textdichte ist ebenfalls eine
Überflutung: der ständige, sich im Detail
verlierende und oft absurde Fluss der Gedanken von
K. und die Unmöglichkeit, dies zu ändern. Auch
während die Protagonisten dem Publikum beginnen,
die Kopfhörer auszuziehen, hört dieser Text nicht
auf und so endet „Marienglas“ mit einem offenen
Schluss. Dennoch bietet sich eine neue Art des
Wahrnehmens an: Während die Wahrnehmung im Teil 2
zeitlich einer Geschichte folgte, wählt sie nun
räumlich aus einer Überinformation aus. Der Fokus
des Besuchers wird nicht durch das Bühnengeschehen
„hypnotisiert“, sondern bewegt sich frei.